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Ralf Schnieder bekam Hilfe durch alternative Medizin: Selbst in die Gesundheit finanziert

Volker Supe, Caristasverband Münster, im Interview: "Gleichberechtigte Teilhabe ist stark gefährdet"

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Brief Doris Schnieder an Krankenkasse

Bild: ©Jens Wiesner

Menschen mit Behinderungen: Durch Gesundheitsreform steigen Kosten

Menschen mit Behinderung brauchen allgemeine Medikamente in größerer Menge und regelmäßiger als Menschen ohne Behinderung. Die Gesundheitsreform 2004 hat diese Kosten beträchtlich steigen lassen. Ein Überblick.

Über 100 Euro zahlt ein Mensch mit Behinderung laut einer Studie im Caritas-Wohnheim Lüdinghausen durchschnittlich pro Jahr an regelmäßigen zusätzlichen Kosten für Gesundheitssorge und Medikamente - Tendenz steigend. Der Betrag scheine niedrig, doch bewertee man diese Kosten im Verhältnis  auf das zur Verfügung stehende Einkommen, könne sich das Bild schnell umkehren.

Ein Blick auf die Änderungen der Gesetzeslage seit der Gesundheitsreform 2004 verrät, dass diese Kosten im Einzelfall durchaus die finanzielle Belastungsgrenze des Betroffenen überschreiten. Gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft, wie sie das aktuelle Sozialgesetz verlangt, kann dadurch beträchtlich erschwert werden.

Zuzahlungen

Für nahezu alle Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung - unter anderem Arztbesuche, Versorgung mit Medikamenten, Krankenhausaufenthalte oder häusliche Krankenpflege - besteht eine Zuzahlungspflicht. Das heißt: Einen festgelegten Teil der Gesamtkosten müssen die Versicherten, auch Menschen mit Behinderungen, selbst tragen. Als Grenze dieser Zuzahlungspflicht gelten in der Regel zwei Prozent des jährlichen Bruttoeinkommens.

Bei schwerwiegend chronischer Krankheit - einer Voraussetzung, die behinderte Menschen häufig erfüllen - verringert sich diese Grenze auf ein Prozent. Dabei ist es weniger die Zuzahlung bei verschreibungspflichtigen Medikamenten, welche die Gesundheitskosten der Betroffenen in die Höhe treibt, sondern häufig der Betrag, den sie an Mitteln für die Pflege ihrer Gesundheit aufwenden müssen. Diese fallen jedoch erst gar nicht unter die Zuzahlungspflicht. Denn: Was nicht verschreibungs- und zuzahlungspflichtig ist, ist auch nicht erstattungsfähig und muss somit komplett selbst getragen werden.

Nicht verschreibungspflichtige Medikamente

Besonders gravierend betrifft dies laut einer Bewertung des Referats Behindertenhilfe im Caritasverband für die Diözese Münster den Bereich der Medikamente, die seit der Gesundheitsreform 2004 nicht mehr vom Arzt verschrieben werden müssen und damit automatisch aus der Erstattung durch die Krankenkassen herausgefallen sind. Für eng eingegrenzte Krankheitsbilder, wie bestimmte Krebsarten, seien mittlerweile zwar Ausnahmeregelungen anerkannt worden, jedoch noch nicht bei behinderungsbedingtem Bedarf. Menschen mit Behinderungen benötigten laut einer Publikation des Instituts "Mensch, Ethik und Wissenschaft" allgemeine Mittel wie Nasen- oder Augentropfen, Wund- und Hautpflegesalben oder Schmerzmittel allerdings in größerer Menge und regelmäßiger als nicht behinderte Menschen. Auch Hautprobleme, die zum Beispiel durch Wundsitzen oder Kratzen verursacht werden, erforderten eine regelmäßige Pflege.

Anwendung alternativer Medizin

Da Menschen mit schweren Behinderungen sich oft nur eingeschränkt oder gar nicht zu ihren Krankheitssymptomen äußern können, sei auch die Möglichkeit, durch schulmedizinsiche Methoden eine Diagnose zu finden, eingeschränkt, sagt Ingo Emmelmann, Heimleiter des Caritas-Wohnheims in Lüdinghausen. Häufig werde daher auf alternative und homöopathische Behandlungsmethoden zurückgegriffen, von denen nur eine sehr eingeschränkte Anzahl im Leistungskatalog der Krankenkassen aufgenommen und in der Regel sehr teuer sei.

Standardisierung, eingeschränkte Kontingente, höherer Verschleiß

Von den Krankenkassen werden in der Regel nur noch preiswerte Standardvarianten und Durchschnittsgrößen zum Beispiel von Rollstühlen oder Hygieneartikeln wie Windeln übernommen. Gerade Menschen mit Behinderungen benötigen jedoch spezielle Sonderanfertigungen, deren Kosten sie selbst tragen müssen. Zusätzlich gehen sie behinderungsbedingt weniger sorgsam mit solchen Gegenständen um, sagt Volker Supe vom Referat Behindertenhilfe im Caritasverband Münster. So müssen beispielsweise Brillen, deren Kosten mittlerweile nicht mehr übernommen werden, häufiger repariert oder komplett ersetzt werden.

Gleichzeitig sei der Bedarf an Leistungen, für die nur bestimmte Kontingente vorgesehen sind, höher als bei Menschen ohne Behinderung. Im Rahmen der Zahnpflege etwa hat sich laut Wohnheimleiter Emmelman eine zweite Zahnsteinbehandlung im Jahr als sinnvoll erwiesen, die allerdings aus dem Erstattungskatalog herausgenommen wurde. Diese muss nun, ebenso wie eine zweite krankengymnastische Behandlung pro Woche, vollständig gezahlt werden.  
 
Kostenrechnung

Das monatliche Gesamteinkommen (Erwerbseinkommen und Taschengeld) eines Menschen mit Behinderung, der zusätzlich acht Stunden pro Werktag zum Beispiel in einer Werkstatt arbeitet, beträgt laut einer Studie von "downtown - Werkstatt für Kultur und Wissenschaft" zum Thema "Arbeit und Down-Syndrom" in der Regel nicht mehr als 200 Euro. Während ihm in einer Wohneinrichtung grundsätzliche Dinge des täglichen Lebens gestellt werden, muss er von diesem Geld die Befriedigung seiner persönlicher Konsumbedürfnisse, zum Beispiel eine Buch, einen Cafébesuch oder CDs selbst bezahlen. Darunter fallen auch die medizinischen Leistungen, die nicht von der Krankenkasse getragen werden.

Daraus folgt, dass die Kosten für diese Leistungen ohne zusätzliche finanzielle Unterstützung beispielsweise durch die Familie maximal nicht mehr als 200 Euro Kosten pro Monat ausmachen können. Gleichzeitig darf ein behinderter Mensch, der in einem Wohnheim lebt, nicht mehr als 2.600 Euro an Barvermögen besitzen, ohne für seine Unterbringung selbst aufkommen zu müssen.

Bestimmte notwendige medizinische Behandlungen oder größere Ausgaben im Rahmen der Gesundheitssorge, zum Beispiel ein behindertengerechtes Fahrrad als Fortbewegungsmittel oder bestimmte Therapien, könnten daher die finanziellen Möglichkeiten eines behinderten Menschen in Deutschland durchaus überschreiten, wie die Zeitschrift "Rechtsdienst der Lebenshilfe" bereits im Jahr 2004 beobachtete.

Erschienen auf: Kirchensite.de, 23.4.2008