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Menschen mit Behinderungen: Durch Gesundheitsreform steigen Kosten

Volker Supe, Caristasverband Münster, im Interview: "Gleichberechtigte Teilhabe ist stark gefährdet"

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Bild: ©Jens Wiesner

Selbst in die Gesundheit finanziert

Bei Menschen mit Behinderungen ist die Diagnose von Krankheiten besonders kompliziert. Jahrelang quälte sich Ralf Schnieder durch schmerzhafte Operationen, erst eine Heilpraktikerbehandlung sollte Linderung versprechen. Doch die Krankenkasse zahlte nicht.

Dora Schnieder kann sich nicht mehr daran erinnern, wie häufig die Anrufe aus dem Caritas-Wohnheim in Lüdinghausen kamen: "Ihrem Sohn Ralf geht es schlechter. Die Salben helfen nicht mehr, die eingewachsenen Entzündungen sind aufgeplatzt." Ralf Schnieder musste - wieder einmal - ins Krankenhaus. Gerne hätte Dora Schnieder ihren 35-jährigen Sohn einfach nur als Mutter besucht. Hätte ihre freie Zeit mit Ralf, der mit dem Down-Syndrom geboren wurde, verbracht. Doch viel zu oft wurde die Rentnerin vor allem als eines benötigt: als amtliche Betreuerin.

Ralf Schnieder litt an Schuppenflechte, Neurodermitis, Furunkeln und extremer Akne. Die Krankenkasse bezahlte: Jeden Arztbesuch, jeden Krankenhausaufenthalt, jede OP. "Manchmal waren wir mehr als sieben Mal im Monat beim Arzt", erinnert sich Nina Wellner, Heilerziehungspflegerin und Ralfs direkte Betreuerin seit über acht Jahren. Wusste der eine nicht weiter, ging es zum nächsten. Jahrelang wurden sie auf diese Weise durchgereicht.

Jahre leidvoller Qual

Im Krankenhaus, diesem unbekannten Raum mit den seltsamen Geräten und dem sterilen Geruch, war Ralfs Angst am größten: Oft nur durch beruhigendes Zureden und die gemeinsame Anstrengung seitens der Mutter und der Betreuerin ließ es ein schweißgebadeter Ralf schließlich zu, dass ihn die Ärzte anfassen durften. "Für einen Menschen wie Ralf, der ein gewohntes Umfeld und Stabilität braucht, waren es wirklich Jahre voll leidvoller Qual", resümiert Nina Wellner.

Schon bei einem ansonsten völlig gesunden Menschen wäre es nicht einfach gewesen, die Ursache so zahlreicher Krankheitsbilder herauszufinden. Bei Ralf Schnieder allerdings kam das Down-Syndrom erschwerend hinzu. Wenn es juckte, kratzte sich Ralf. "Wie soll man ihm auch erklären, dass sich die Wunden dadurch nur weiter entzünden?", fragt Wellner. Am schlimmsten aber: Ralf kann nicht sagen, wo es ihm genau weh tut oder wie sich der Schmerz anfühlt. "Die Schulmedizin, auf die Mittel der Diagnostik angewiesen, kommt bei Menschen mit geistigen Behinderungen sehr viel früher an ihre Grenzen", weiß Heimleiter Ingo Emmelmann.

Krankenkasse zahlt nicht 

Nachdem innerhalb eines Jahres zwei Operationen nötig waren, entschloss sich Dora Schnieder in Absprache mit der Heimleitung schließlich dazu, alternative Möglichkeiten auszuprobieren und wandte sich an eine Heilpraktikerin. "Wir haben die Entscheidung damals aus der Not von Ralf und seiner Mutter getroffen", erzählt Emmelmann. Einfach sei ihm der erste Schritt nicht gefallen: Emmelmann weiß um den Ruf der Heilpraktik bei den Schulmedizinern, weiß, dass es nicht nur seriöse Angebote gibt. "Daher überprüfen wir immer sehr kritisch, ob das Ganze noch einen Sinn hat - auch in finanzieller Hinsicht, da nichts von der Krankenkasse übernommen wird."

Am Anfang stand eine große Laboruntersuchung auf Unverträglichkeiten und Allergien: 209,83 Euro. "Dann mussten Ralfs Essgewohnheiten völlig umgestellt werden", erinnert sich Dora Schnieder. Das erforderte viel Sorgfalt und Geduld auf allen Seiten. Und es erforderte viel Geld. Allein 1.974,64 Euro kostete die Therapie bei der Heilpraktikerin, die insgesamt neun Monate dauerte, anfangs zwei Mal die Woche. 991,34 Euro gingen für Salben und andere nicht verschreibungspflichtige Medikamente über die Ladentheke der örtlichen Apotheke, noch einmal 253,53 Euro für Pflegemittel aus dem Reformhaus. Um das Geld überhaupt aufbringen zu können, musste sich Ralf Schnieder Geld von seiner Mutter leihen. Jeden Monat zahlt er nun 50 Euro davon zurück.

Aufwand lohnte sich

"Nicht alle unser Bewohner hätten sich das leisten können", stellt Ingo Emmelmann fest. "Generell sind Menschen mit geistiger Behinderung in Wohneinrichtung rundum versorgt", versichert er. Das Beispiel Ralf Schnieder zeige aber, dass es besondere Lebensumstände und Krankheiten gibt, dass Kosten im Einzelfall so hoch werden können, dass sie den Rahmen der Versorgung behinderter Menschen sprengen. Für Ralf Schnieder sollte sich der finanzielle Aufwand lohnen: die Therapie schlug an. "Seit der Behandlung hat mein Sohn keine Furunkel mehr bekommen", freut sich Dora Schnieder. Ein deutlich höheres Maß an Lebensqualität kann auch Nina Wellner attestieren: "Ralf hat wieder Energie zum Rennen - und eine richtig tolle Haut!"

Die Therapie hat dazu beigetragen, ihm ein Leben ohne ständige Schmerzen und Krankenhausaufenthalte zu ermöglichen. Nur eine Sache stimmt Dora Schnieder traurig und nachdenklich: Dass ihre Krankenkasse weiterhin jedes Jahr teure Operationen an Ralf bezahlt hätte, aber selbst nach einem offensichtlichen Erfolg nicht dazu bereit war, zumindest die Kosten der Labor-Untersuchungen zu übernehmen. "Ich würde mir einfach wünschen, dass die Krankenkassen in Zukunft offener mit alternativer Medizin umgehen, wenn es um die Behandlung behinderter Menschen geht. Nicht nur für Ralf, für alle behinderten Menschen mit solchen Problemen."

Erschienen auf: Kirchensite.de, 23.4.2008