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J E N S     W I E S N E R
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F R E I E R     J O U R N A L I S T   &  

P H O T O G R A F

HINTER DEN KULISSEN

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass mich meine Recherchen zum Thema Residenzpflicht von Hamburg bis nach München und damit quer durch Deutschland geführt haben - eine Reise, die Abdul niemals hätte antreten können.

Für mich war es gleichzeitig die erste Reise in ein Asylbewerberheim. Einerseits war es erschreckend: Der Zustand der Behausung war sicher nicht akzeptabel und deprimierend anzusehen. Andererseits habe ich eine sehr ausgeprägte Hilfsbereitschaft untereinander und - trotz allem - eine große Gastfreundlichkeit erlebt.

Eine Lektion wird mir auf jeden Fall im Gedächtnis bleiben: Auf der einen Seite mögen sich Verordnungen und Gesetze auf dem Papier sinnvoll anhören, können in ihrer konkreten Ausführung jedoch katastrophale Auswirkungen für die betroffenen Menschen bedeuten.

Und leider, leider gibt es in einigen Behörden offenbar viel zu viel Personal, das lieber seine eigene Machtposotion über Menschen ausnutzt, statt ihnen wirklich helfen zu wollen - oder fahrlässig nicht an die weitreichenden Konsequenzen seiner Handlungen denkt. Zwar ist es ein durchaus immenser Arbeitsstress und Zeitdruck, mit dem manche Sachbearbeiter zu kämpfen haben, aber so etwas kann und darf einfach keine Rechtfertigung für eine unmenschliche Behandlung sein.

Vielleicht regt dieser Artikel ja etwas zum Nachdenken und Diskutieren über dieses Thema an - alles ist besser als Gleichgültigkeit. [jw]

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 YAEZ

 

Abduls Schatten auf dem Asphalt

Bild: ©Jens Wiesner

Gefangen in Deutschland: Jugendliche Asylbewerber

"Jeder hat das Recht, sich innerhalb eines Staates frei zu bewegen und seinen Aufenthaltsort frei zu wählen."-Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Artikel 13, Absatz 1. Anerkannt durch Deutschland mit Beitritt zur UNO am 18. September 1973

Abduls Zuhause liegt zwischen einem Tierheim und einem Autofriedhof. Zugegeben, niemals würde der heute 19-jährige Schüler die Bezeichnung "zuhause" verwenden, wenn er von seinem Flüchtlingslager in der bayrischen Kleinstadt Schongau erzählt. Aber es hilft nichts: In sein Geburtsland Sierra Leone kann Abdul nicht mehr zurück. Schließlich ist er von dort geflohen. Erst mit dem Flugzeug, dann mit dem Zug. Bis nach München, wo der hoch gewachsene Junge vor drei Jahren eine Polizeiwache betrat, ein einziges deutsches Wort auf den Lippen: Asyl.

Die Hoffnungen des 16-Jährigen Abdul sind groß. Der junge Afrikaner brennt danach, zur Schule zu gehen, um etwas Sinnvolles zu lernen. Sein großer Traum: Arzt zu werden und andere Menschen gesund zu machen. Anfangs sieht es gar nicht schlecht aus: Für zwei Wochen besucht Abdul eine Münchner Schule. Seine ersten Brocken Deutsch lernt er dort, die Lehrer mögen ihn.

Doch der Ort, an dem Abdul seit seiner Ankunft lebt, ist nichts weiter als ein Durchgangslager. Ein Wartezimmer, bis die Münchener Ausländerbehörde endgültig über seinen künftigen Wohnort entschieden hat. Schließlich schicken ihn die Bürokraten fort - ins Asylbewerberheim nach Schongau, 90 Kilometer von München entfernt.
   
Der Haken: Keine Schule in der bayerischen Kleinstadt kann Abdul einen vernünftigen Unterricht ermöglichen. Der Besuch einer normalen Klasse scheidet aus, schließlich wird Deutsch bzw. Bayrisch gesprochen. Da helfen auch Abduls ausgezeichnete Englischkenntnisse nur wenig weiter. Als er merkt, dass sich sein neuer gesetzlicher Vormund, ein x-beliebiger Beamter, nicht weiter kümmert, nimmt er die Sache kurzerhand selbst in die Hand: Der 16-jährige spricht mit seiner Lehrerin aus München, die ihm eine Rückkehr in seine alte Klasse zusagt.

Abdul (im Gegenlicht) geht aus der Tür seines Wohnheimes

Abdul in seinem Wohnheim (Bild: ©Jens Wiesner)

Last Exit Schongau

Abdul ist überglücklich - bis ihm die Dame im Ausländeramt sachlich aber bestimmt erklärt, dass es so einfach dann doch nicht gehe. Schließlich gelten Gesetze in Deutschland und für Asylbewerber wie Abdul ganz spezielle: Zum Beispiel die "Residenzpflicht". Zum ersten Mal hört Abdul diesen seltsamen Begriff. 15 Buchstaben, die seine Bewegungsfreiheit auf exakt 966,41 Quadratkilometer zusammenschrumpfen lassen - die Grundfläche seines Landkreises Weilheim-Schongau, auf einer Deutschlandkarte nur mit der Lupe zu finden.

Der junge Afrikaner versteht die Welt nicht mehr: Plötzlich ist es ihm verboten, nach München zu reisen. Bereits ein einziger Fuß außerhalb seines Landkreises reicht nun ausreichen, um ihm eine saftige Geldstrafe einzuhandeln. Überquert Abdul gar die Grenze zum nächsten Bundesland und wird von der Polizei erwischt, gilt er als vorbestraft. Was ist mit dem Deutschland seiner Träume geschehen, einem Land der Freiheit und der unbegrenzten Möglichkeiten?

"Das öffentliche Interesse an einer ständigen Greifbarkeit des Ausländers übersteigt dessen privates Interesse eines Besuchs zur Freizeitgestaltung."So begründet der Gesetzgeber im feinsten Bürokratendeutsch, warum Asylsuchende wie Abdul per Residenzpflicht an der kurzen Leine gehalten werden. Unverhohlen drückt dieser Satz eine weitere Botschaft aus: Der Staat will, dass Menschen wie Abdul wieder verschwinden. Am besten vorgestern. Und wenn es soweit ist, sollen sie eben griffbereit sein.

"Als würde man ein Schaf zum Wasser führen, es aber nicht trinken lassen"

Weil Abdul keinen Ausweg mehr sieht, verbringt er die kommenden Monate fast ausschließlich im Lager. Spielt ein bisschen Fußball, sein Leben plätschert so dahin. 40,90 Euro erhält er monatlich vom Staat, die notwendigen Lebensmittel werden in Essenspaketen zum Flüchtlingsheim geliefert. Arbeiten, um sich etwas Geld dazuzuverdienen, darf Abdul nicht. "Es fühlt sich an. als würde man ein Schaf zum Wasser führen, es aber nicht trinken lassen", sagt er heute.

Dann endlich erklärt ihm jemand, dass er eine Ausnahmegenehmigung von der Residenzpflicht beantragen kann - solange sein Grund dem Sachbearbeiter bei der Ausländerbehörde gut genug erscheint. Möchte er nur einen Freund besuchen, muss dieser zuerst eine offizielle Einladung schreiben. Zusätzlich benötigt Abdul die Unterschrift seines gesetzlichen Vormunds. Erst dann kann er die Papiere zur Ausländerbehörde schicken, die manchmal ja sagt, manchmal nein. 

Nach mehreren Monaten des Bittens zeigen die Behörden ein Einsehen: Für einen Schulbesuch in München darf  sich Abdul nun zusätzlich montags bis freitags in der bayerischen Hauptstadt aufhalten. Ein wenig mehr Freigang aus dem gefühlten "Gefängnis Schongau". Da seine monatlichen 40,90 Euro längst nicht ausreichen, um jeden Tag mit dem Zug nach München fahren, schläft Abdul in der Woche bei einem Freund. Doch an den Wochenenden muss er notgedrungen zurück. Schließlich gilt seine Ausnahmegenehmigung nur bis Freitagnacht, 23:59 Uhr.

Ein bisschen Freiheit

Um das wenige Geld zu sparen, steht Abdul trotzdem schon sonntagabends am Schongauer Bahnhof - und bettelt um eine Mitfahrgelegenheit auf einem Wochenend- oder Bayernticket. Führe er erst montags am frühen Morgen, wären die Chancen gleich Null, auf einem solchen Ticket mitzufahren - gleichzeitig würde er zu spät zu Schule kommen. Ein risikoreiches Unterfangen.

Einige Zeit geht es gut, dann gerät Abdul doch in eine Kontrolle: "Montag bis Freitag, nicht Sonntag", murmelt der Polizist, während er Abduls Papiere durchblättert. Es ist sieben Uhr abends, bis Montag fehlen nur wenige Stunden. Egal, Abduls wenige Papiere werden ihm abgenommen, die Ausländerbehörde benachrichtigt. Die Nacht muss der Junge auf der Polizeiwache verbringen.

Gegenüber der Ausländerbehörde versucht Abdul, seine Misere zu erklären. Erst nach langem Ringen lässt sich die zuständige Sachbearbeiterin erweichen. Mit einem einfachen Filzstift streicht sie das Wort "Montag" in seinen Papieren durch und ersetzt es in wenigen Sekunden durch ein handschriftliches "Sonntag". So einfach geht das? Abdul kann es nicht glauben. Von nun an darf er sich also sechs Tage wöchentlich in München aufhalten. Aber wehe, er wird an einem Samstag erwischt...    

Erschienen in: YAEZ Frühlingsausgabe 2010 [PDF]