UNICUM
Bild: ©Roman Striethorst
Erstlingswerk von Zhizhe Dong: Studium süßsauer
Unter chinesischen Jugendlichen ist der Bremer Student Zhizhe Dong längst ein kleiner Star: Sein Roman "Castle Outside The Window" (窗外城) beschreibt den ganz alltäglichen Schul- und Uniwahnsinn in Deutschland. In Peking betrachtet man das Erstlingswerk dagegen mit Skepsis.
Schlabbriger Kapuzenpulli, weißes Käppi auf dem Kopf. Zugegeben, rein äußerlich verbindet den 26-jährigen Zhizhe Dong nur wenig mit einem chinesischen Bürgerrechtler: Doch in China muss man keine politischen Umstürze fordern, um das Misstrauen der Regierung zu erwecken. Es reicht schon aus, gerne zu schreiben.
Vor gut einem Jahr veröffentlichte der Bremer Mathematikstudent seinen ersten Roman im Reich der Mitte. Es sollte nicht lange dauern, bis die ersten Medien auf das junge Talent aufmerksam wurden. Doch schon 2010 sollte kein einziges Interview mehr seinen Weg in die Öffentlichkeit finden. Eine Reaktion, die erst einmal überrascht: Schließlich handelt es sich bei "Castle Outside The Window" nicht um eine politische Klageschrift oder um eine bissige Gesellschaftssatire. Nein, Zhizhes Erstlingswerk erzählt seine persönliche Lebensgeschichte: die eines jungen Chinesen, der nach Bremen übersiedelt, dort aufs Gymnasium geht und studiert. Liebe und Triebe spielen eine Rolle, die bekannten Wirrungen des Erwachsenwerdens gemischt mit kulturellen Missverständnissen, viel Musik, Alkohol und Fußball. Kurz gesagt: Das Buch handelt vom Leben eines völlig normalen Teenagers.
Völlig normal zumindest in Deutschland - denn an Chinas Bildungsstätten herrschen noch Disziplin und Ordnung. Der Lehrer ist der uneingeschränkte Herrscher der Klasse, unterrichtet wird bis tief in die Abendstunden. Ausschweifende Feiern, amouröse Abenteuer und Alkoholexperimente würden bei der Vorbereitung auf die ach-so-wichtige Arbeitswelt nur stören. Zhizhes Roman aber zeigt gerade diese Seiten des Erwachsenwerdens. Und noch schlimmer: Er bietet einen ungeschminkten Blick auf das Alltagsleben in Deutschland.
"Wir Chinesen wissen so wenig über die westliche Welt – ohne Facebook, Wikipedia und Google"
©Zhizhe Dong
Es ist nicht das erste Mal, das Zhizhe aneckt: Schon in der Grundschule sorgen sich die Lehrer über die Aufmüpfigkeit ihres Schülers: Weil er Dinge hinterfragt, weil er nicht einsieht, trotz guter Leistungen auch noch abends zur Schule zu müssen. Zum großen Knall kommt es 1999, als der Weihnachtsbesuch bei seinem Vater in Bremen ansteht. Zhizhes Schuldirektor stellt die Familie vor die Wahl: Sollte der Junge vom Unterricht fernbleiben, bräuchte er sich in der Schule nicht mehr blicken zu lassen.
Wer nun aber glaubt, Zhizhe Dong sei zu einem Revoluzzer mutiert, zu einem Vorkämpfer für die Meinungsfreiheit in China, übertreibt. "Ich wollte einfach meine eigenen Erfahrungen mit meinen Landsleuten teilen", erklärt Zhizhe seine Motivation. "Wir Chinesen wissen so wenig über die westliche Welt - ohne Facebook, Wikipedia und Google. Darüber, wie es hier wirklich ist." Und Zhizhe folgt einem eisernen Credo: Er schreibt nichts, ohne es zuvor mit eigenen Augen gesehen zu haben. Berichtet er über die harten Arbeitsbedingungen chinesischer Bergarbeiter, dann nur, weil er sich für zwei Tage selbst in eine Mine eingeschlichen hat.
Die Idee, seine eigene Geschichte niederzuschreiben, kommt Zhizhe kurz nach dem Abitur. Während seine Mitschüler zum Wintersemester 2004 an die Uni wechseln, muss der junge Chinese noch fünf Monate auf ein neues Visum warten. Zhizhe schickt sein Manuskript nach China - und wird erst einmal enttäuscht. Manche Verlage schreiben eine Absage, die meisten antworten gar nicht. Doch der junge Chinese weigert sich aufzugeben. Auf die zweite Fassung folgt eine dritte, eine vierte - bis die DINA4-Blätter endlich mit Worten gefüllt sind, die richtig klingen. Vier Jahre später ist es soweit: Ausgerechnet Flower City Publishing House, das größte Verlagshaus Südchinas, schlägt zu. In der Provinz Shandong, weit entfernt von der Parteizentrale in Peking, können die Dinge offener angesprochen werden. Selbst George Orwells "1984" wurde hier schon veröffentlicht.
Auch diesmal beweisen die Lektoren den richtigen Riecher: Bereits im Februar 2010 tauchen erste Raubkopien des Buchs auf; mitunter ergänzt durch frivole Illustrationen die mit dem Inhalt nur noch wenig zu tun haben: Halbnackte Frauen räkeln sich nun zu Zhizhes Sätzen. Der junge Autor ist empört - und fühlt sich gleichzeitig geschmeichelt. Von seinen Schreibkünsten leben kann Zhizhe allerdings noch nicht - nach dem Ende seines Studiums will er erst einmal als Mathematiker arbeiten. Den zweiten Teil von "Castle Outside The Window" hat er aber schon in Arbeit - und hofft, bald auch in Deutschland einen Verlag zu finden. "Mein Roman könnte eine neue Sicht auf Deutschland liefern ", ist sich Zhizhe sicher, "Die Sicht von Migranten, die sich gut in die westliche Kultur integriert haben."
Leseprobe - exklusive Übersetzung ins Deutsche
Zhizhe Dongs autobiografischer 400 Seiten- Roman "Castle Outside The Window" ist bislang nur auf Chinesisch erhältlich. Exklusiv für Unicum hat er einen Auszug aus dem neunten Kapitel übersetzt, das in China besonders gern gelesen und weiter ausgeschmückt wird:
Eines Nachts langweilte sich Meng sich so sehr, dass er den Fernseher einschaltete. Auf dem Bildschirm erschien plötzlich eine dick geschminkte Frau; schnell hatte sie sich all ihrer wenigen Kleidung entledigt. Meng war geschockt. „Es gibt Pornos im TV?“ Als er den Fernseher ausschalten wollte, erkannte er auf dem Bildschirm einige Wörter und Nummern. Die Bedeutung der Wörter blieb ihm fremd, aber die Nummern konnte er schon lesen. "3.63DM/Min", stand dort, daneben weitere Nummern: "0190" und "666666". Er war verblüfft. Hatte er gerade Pay-TV geschaut? Mehrere Deutsche Mark für nur eine Minute?
Meng war furchtbar aufgeregt, hatte sich rasch in sein Bett gelegt, den Kopf unter die Decke vergraben. Wenn die Rechnungen kamen, wie sollte er es seinen Eltern erklären? Wie konnte er sie überzeugen, dass es nicht mit Absicht geschehen war? Hatte er etwa gegen die Gesetze der Bundesrepublik Deutschland verstoßen? „Bitte mich nicht abschieben", dachte Meng, mittlerweile mit Gänsehaut, "Sonst muss ich wieder auf die Schule verzichten.“
Der nächste Morgen kam, ohne dass Meng ein Auge zugedrückt hatte. In der Schule wollte er seinem Kumpel Ashol alles erzählen. Weil er aber die Sprache nicht beherrschte, kapierte Ashol nicht, was er meinte. Also griff Meng auf Körpersprache zurück - und tanzte Striptease. Ashol lachte und beruhigte seinen Freund. Von da an traute sich Meng nie wieder, mitten in der Nacht den Fernseher einzuschalten.