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 STUDIEREN IN MÜNSTER | SOMMER 09

 

Hafen von der noch unbebauten Seite

Zwei Seiten eines Hafens (Bild: ©Frank Heßling/ flickr)

Der Kanal: Münsters längstes Freibad

Ein lauer Sommerabend am Kanal. Ich liege entspannt im Gras, ein Glas Rotwein in der einen, eine Zigarette in der anderen Hand. Während ein verirrter Grashalm meine Nase kitzelt, weht mir eine Brise erfrischende Kühlung vom Wasser herüber ins Gesicht. Ganz in Gedanken versunken atme ich aus und folge mit meinem Blick den Rauchschwaden meiner Zigarette. Uni, Jobsuche und Geldsorgen scheinen in diesem Moment meilenweit entfernt. Plötzlich zerreißt ein lauter Platscher die idyllische Stille: Offensichtlich hatte die dunkelhaarige Studentin von nebenan genug vom Schmökern in der letzten Potter-Fortsetzung und sich für einen beherzten Sprung ins kühle Nass entschieden. Als die Wasserspritzer mein Gesicht erreichen, bekomme ich spontane Lust, es ihr gleich zu tun.

Zu kitschig? Zugegeben – wer sich an einem verregneten Herbsttag an den Dortmund-Ems-Kanal verirrt, wird nur schwerlich die Anziehungskraft dieses Ortes verstehen, sobald die ersten Sonnenstrahlen die grauen Wolken durchbrochen haben und das Thermometer in akzeptable Höhen geklettert ist. Dann allerdings schlägt der Besuch des Kanalabschnitts zwischen Warendorfer Straße und dem Albersloher Weg ohne große Mühen jedes Freibad, in dem nicht selten Chlorgeruch, Kinderpipi und sardinenartige Platzverhältnisse das erhoffte Sommerfeeling trüben. (Dass der Aasee als Badealternative komplett ausfällt, wird auch der unerfahrenste Ersti nach einem kurzen Blick – spätestens nach dem ersten unfreiwilligen Bad im Alkoholrausch – festgestellt haben.) Ein weiterer Vorteil liegt auf der Hand: Der Eintritt zu „Münsters wohl längstem Freibad“ ist und bleibt gratis. Auch diejenigen unter euch, die nicht auf das obligatorische Freibadeis verzichten können, seien an dieser Stelle beruhigt: An besonders warmen Sommertagen sorgt mittlerweile ein geschäftstüchtiger fahrender Eismann für die nötige Abkühlung von innen.

Um am Kanal glücklich zu werden, braucht es grundsätzlich nicht viel. Ein großes Handtuch gegen den pieksenden Untergrund ist hilfreich, Badekleidung nur optional von Nöten. Vor allem, wenn sich der Schleier der Nacht gesenkt hat und die Fotohandys pubertierender Jugendlicher an ihre Leistungsgrenzen stoßen, ist „skinny dipping“ noch immer eine echte Option. Wer dennoch nicht auf ein schützendes Textil verzichten will, dem sei geraten, sich schon zu Hause in Badeshorts oder Bikini zu werfen: Zwar dienen die angrenzenden Baumreihen als recht effektive natürliche Umkleidekabine, leider auch als einzige weitgehend abgeschirmte Toilettenmöglichkeit der Kanalbesucher.

Freizeit- und Sportmöglichkeiten en masse

Ist ein längerer Aufenthalt geplant oder will man nicht nur mit geschlossenen Augen den Bräunegrad des eigenen Teints erhöhen, darf etwas Lesbares im Gepäck nicht fehlen. Während sich besonders eifrige Exemplare der Spezies Student nicht selten in ihre Seminarunterlagen vertiefen, empfiehlt der Autor allerdings die leichte Magazinlektüre oder ein spannendes Buch. Seminarunterlagen am Kanal zeichnen sich aus eigener Erfahrung durch die wissenschaftlich bislang unerforscht gebliebene Neigung aus, mit dem ersten Windstoß in alle Himmelsrichtungen verteilt zu werden.

Noch besser als in trauter Harmonie mit sich selbst lässt sich der Kanalbesuch allerdings in Gesellschaft genießen. Sei es in Zweisamkeit mit guten Freunden, die je nach Alkoholpegel und sichtbarer Sternenzahl am Nachthimmel schon einmal romantischen Charakter annehmen und zu ‚mehr’ führen kann, oder in einer größeren Gruppe.

Leute am Schwimmen am Kanal in Münster

Kanal im Sommer (Bild: ©Lutz M. Hirschmann)

Der klassische Anlass, seine Freunde für einen Kanalbesuch zusammen zu trommeln, bleibt dabei die urteutonische Grilltradition. Wer nicht mindestens einmal im Sommer Kühltaschen voller Getränke, Grillfleisch, Salate, und Tofu-Produkte zum Kanal geschleppt hat, kann das Münsteraner Studentenleben eigentlich nur halbherzig genossen haben. Sogar Wohnzimmersofas sollen für derartige Kanal-Events schon durch die halbe Stadt getragen worden sein. Ins Reich der urbanen Legenden muss allerdings das Gerücht verwiesen werden, die Tankstelle an der Brücke Wolbecker Straße würde in den Sommermonaten mehr Einnahmen durch Kohle, Anzünder und Fünf-Euro-Grills machen als durch den Verkauf von Benzin.

Das unweigerliche schlechte Gewissen nach dem kalorienreichen Nahrungskonsum lässt sich durch anschließende sportliche Betätigung recht schnell wieder beruhigen. Mit einem Set Badmintonschläger oder einer Frisbeescheibe können zusätzliche Pfunde schnell wieder abtrainiert werden. Ebenso wenig im Gepäck fehlen sollte der klassische Marktkaufball, mit dem entweder des Deutschen Lieblingssport gefrönt oder die sportliche Aktivität gleich in den Kanal verlegt werden kann. Freunde des gepflegten Gerstentropfens schwören zudem auf eine spontane Runde Flunkyball gegen benachbarte Grillgruppen. Diese besondere Sportart vermag allerdings nur das Gemeinschaftsgefühl, nicht aber den Kalorienverbrauch zu fördern. 

Wer zu den glücklichen Besitzern eines Schlauchboots oder Kanus zählt, kann die sportliche Aktivität zudem mit einem kleinen Sonnenbad auf dem Wasser verbinden. Aber Vorsicht: Der natürliche Bewohner des Lebensraums ‚Kanal‘, das gemeine Binnenschiff, ist in der Regel stärker als das eigene Vehikel und sollte weiträumig umfahren werden. Für eine professionelle Vertiefung der Materie sorgt bei Bedarf die Marine-Jugend Münster oder eine Mitgliedschaft in den verschiedenen Münsteraner Segel- und Ruderclubs. Übrigens: Eine Stunde Rudern verbrennt durchschnittlich rund 500 Kalorien. Abzuraten sei an dieser Stelle allerdings von der verbreiteten Mutprobe, Münsters Kanalbrücken als Turmspringplattformen zu missbrauchen. Da viele Münsteraner ihre ausgedienten Fahrräder schon einmal bei Nacht und Nebel im Kanal entsorgen, endet die gekonnte halbe Schraubendrehung nicht selten in der ungewollten Bekanntschaft mit einem dahinrostenden Fahrradlenker. Ein Kräftemessen, das in der Regel zugunsten des Lenkers ausgeht und für den Springer mit einer radikalen Verkürzung seiner Lebenszeit verbunden ist   

Neigt sich der Tag dann langsam seinem Ende zu, bleiben dem Kanalbesucher zwei Möglichkeiten: Entweder öffnet er schlicht die nächste Flasche Rotwein und greift in die Saiten seiner mitgebrachten Gitarre – oder er macht sich auf den Weg zum „Kreativ-Kai“, der einige Fuß- oder Fahrradminuten (je nach Standort) entfernten Uferpromenade des Hafenbeckens.  

Facelifting für Münsters Hafenviertel

Wohl nur wenige Plätze in Münster wurden in den vergangenen Jahren einem derartigen Strukturwandel unterzogen, wie das Areal rund um den Hafen. Viele Stadtbewohner und Studenten älteren Jahrgangs werden sich an die Zeit erinnern, als diesem Gebiet noch der Ruf eines Geisterviertels nachgesagt wurde: Bereits in den siebziger Jahren hatten die meisten Industriebetriebe den Standort verlassen – das kleine Hafenbecken war den Ansprüchen des modernen Güterumschlags nicht mehr gewachsen gewesen. Jahrzehntelang lagen die Flächen des „Stadthafens I“ nun brach und rosteten vor sich hin. Mitte der achtziger Jahre entdeckte schließlich die münsterische Subkultur- und Kunstszene das industrielle Kleinod für sich, richtete Ateliers in den großflächigen Kontoren und Lagerhallen ein oder nutzte den Ort selbst als Ausdruck künstlerischen Schaffens. Schon legendär unter Münsters Studenten ist der – mittlerweile geköpfte – „Elephant“ auf der Südseite des Hafenbeckens, unter dem auch noch heute spontane Jam und Trommel-Sessions bei Wein und Bierchen abgehalten werden.

Ende der neunziger Jahre folgte mit dem städtischen Nutzungskonzept „Kreativ-Kai“ die Zähmung der nördlichen Uferpromenade. In diesem Rahmen verlor der Stadthafen zwar viel von seinem ursprünglichen subkulturellen Charme, gewann hingegen Attraktivität an anderer Stelle hinzu: Das Wolfgang-Borchert Theater wurde vom Bahnhof in die ehemalige Molkereizentrale verlagert, für Kinofans ein Multiplexkino mit 2.500 Plätzen errichtet und großflächige Büroneubauten angesiedelt. Den wahren Durchbruch vom Geheimtipp zum Trendviertel gelang allerdings erst 2004 mit dem Einzug verschiedener Freizeit- und Gastronomieeinrichtungen sowie einer baulichen, nicht ganz unumstrittenen Verbreiterung der Promenade in den Folgejahren.  

So ist es mittlerweile nicht mehr leicht, auf den zahlreichen Outdoor-Bänken der Restaurants, Kneipen, Lounges und Cafés noch einen freien Platz zu finden, während sich die Sonne langsam vom Tag verabschiedet und ein stetiger Strom an Menschen die Uferpromenade entlang flaniert. Besonderen Anteil an dieser neuen Attraktivität ist ohne Zweifel dem ebenfalls 2004 eröffneten „Coconut-Beach“ geschuldet, einer 2500m² große Strandfläche mit DJ-Pult, Tanzfläche, Palmen und Liegestühlen. Längst hat es sich nicht nur unter den münsterischen Studis herumgesprochen, dass mediterranes Urlaubsfeeling selbst im wettermäßig eher durchschnittlichen Westfalen aufkommen kann und sich der Alltags- und Unistress mit Palmen und Sand zwischen den Zehen gleich sehr viel leichter ertragen lässt.

Während die Musikauswahl am „Beach“ in der Regel eine eher loungige Atmosphäre passend zum gepflegten Chillen im Sand bietet, treibt es tanzwütigere Füße zur späten Stunde entweder ins „Heaven“, einem Clubrestaurant, das neben House- und Elektro, Chart, Hip Hop und Black Music auch eine gute Küche verspricht oder in den „Hot Jazz Club“. Seit 2000 finden dort neben traditionellen Jazz- und Blues-Livekonzerten und den offenen Jazz- und Latinsessions (freier Eintritt), mittlerweile auch Funk, Soul, Rock, Pop, Reggae, Ska und Electro eine musikalische Heimat.

Noch enger geht es auf der Uferpromenade zu, wenn der MS Hafen e.V. zum jährlichen Hafenfest (in diesem Jahr vom 12. bis 14. Juni 2009) einlädt und mehrere Tausend Besucher an einem Wochenende zum „Kreativ-Kai“ strömen, um sich lokale wie überregionale Live-Bands oder Ruderwettkämpfe auf dem Wasser anzusehen. Für größere Events steht momentan noch die OSMO-Halle zur Verfügung, die zweimal in der Woche auch einem eigenen Markt im Hafen – als letzte Erinnerung an seine ursprüngliche Nutzung – eine Heimat bietet. Besonders die münsterischen Fußball- und Filmfans werden sich in absehbarer Zukunft allerdings einen neuen Ort für die beliebten Public Viewings und Open Air-Kinoabende auf Liegestühlen suchen müssen.  Mittelfristig wird die 50.000 m² große Halle wohl einem Neubau weichen müssen. 

Ihr seht, die Entwicklung des Hafengebiets ist gerade erst ins Rollen geraten und wird wohl noch einige Jahre bis zu ihrem vorläufigen Abschluss benötigen. In diesem Rahmen ist auch geplant, die bislang brachliegende Südseite des Hafenbeckens in die Umstrukturierung einzubeziehen. Ein Besuch an Kanal und Hafen lohnt sich daher auf jeden Fall – und das besser zu früh als zu spät: Denn wer kann schon sagen, ob es die eigene Lieblings-Location auch in den nächsten Jahren noch geben wird …

erschienen in: Studieren in Münster | Sommer 09