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Bild: Kalte Dusche am Ostermontag ©Marcin Głuszek
Ostermontag in Polen: Wasserschlacht als Balzritual
Stellen Sie sich einmal vor, auf dem Weg zur Kirche von einem Eimer mit kaltem Wasser getroffen zu werden. Die feine Sonntagstracht - ruiniert. Nun versetzen Sie dieses Bild ins erzkatholische Polen. Unmöglich?! Dann haben Sie noch nie von "Śmigus-dyngus" gehört.
Keuchend rennt Justyna Kalbarczyk durch die Straßen ihrer Heimatstadt Poznań, eine Gruppe junger Männer dicht auf den Fersen. Nur noch wenige Meter, dann würde die 23-jährige Studentin das rettende Elternhauses erreicht haben. Doch auf der Türschwelle warten bereits ihre Brüder - jeder mit einem kalten Wassereimer bewaffnet und einem schadenfrohen Grinsen auf den Lippen. Platsch! Sekunden später steht die junge Frau triefend da, ihre Kleidung bis auf die Haut durchnässt.
Diese Geschichte ist kein Einzelfall. Jeden Ostermontag werden in Polen unzählige Menschen auf offener Straße und in ihren eigenen Wohnungen Opfer heimtückischer Wasserattacken: Wasserbomben, großkalibrige Wasserpistolen, Eimer oder der nahegelegene See - jedes nur denkbare Mittel ist den meist jugendlichen Attentätern recht, um ihre Mitmenschen möglichst nass zu bekommen.
Nass mit Tradition
Doch niemand, zumindest nicht auf dem Lande, käme auf die Idee, die Polizei zu rufen oder gar Schadenersatz für ruinierte Kleidung oder Handys zu verlangen. Denn der "nasse Montag" ("Lany poniedzialek") ist Teil einer jahrhundertealten Tradition, die bis ins Mittelalter zurückreicht und ebenso fest zu Polen gehört wie Marienkult, Bigos und Johannes Paul II - ihr Name: "Śmigus Dyngus".
Nach christlicher Lesart lässt sich die Tradition auf den polnischen König Mieszko I. zurückführen. Dieser hatte sich am Ostermontag des Jahres 966 taufen und stellvertretend für ganz Polen zum Christentum bekehren lassen - die Geburtsstunde des polnischen Katholizismus. Andere Quellen sehen den Ursprung des nassen Rituals dagegen in älteren heidnischen Bräuchen: Zur symbolischen Reinigung wurden junge Frauen bei Frühlingsbeginn mit Wasser benetzt.
Erste schriftliche Quellen, die vom ritualisierten Wasserschütten berichten, datieren bis weit in die Vergangenheit: "Es ist universeller Brauch, vom gewöhnlichen Untertan bis in die höchsten Kreise der Gesellschaft, dass Männer am Ostermontag die Frauen mit Wasser begießen", schrieb bereits ein polnischer Historiker im Mittelalter.
In jenen Tagen drangen die Männer am frühen Morgen heimlich in die Häuser ein, um den auserwählten Frauen ein nasses Erwachen zu bescheren. Eine Quelle vom Beginn des 19. Jahrhunderts hält die Reaktionen fest: "Die Mädchen kreischen, aber in ihren Herzen freuen sie sich, da sie genau wissen: Diejenige, die trocken bleibt, wird im selben Jahr nicht mehr heiraten!"
Alter schützt vor Wasser nicht (Bild: ©Marcin Głuszek)
Schönheitswettbewerb in der Badewanne
Polnischen Jugendlichen dient die nasse Tradition noch heute als kokettierendes Balzritual. "Śmigus Dyngus ist praktisch ein Schönheitswettbewerb: Je hübscher und begehrenswerter ein Mädchen ist, desto nasser wird es gemacht, erklärt Urszula Mochocka aus Zabrze - freilich nicht ohne hinzuzufügen, dass sie in ihrer Jugendzeit stets im Dorfteich oder einer eigens organisierten Badewanne versenkt wurde.
Dass den pubertierenden Jungs dieser institutionalisierte Wet-T-Shirt-Kontest gefällt, liegt auf der Hand. Die Meinungen der weiblichen Bevölkerungsseite klaffen dagegen auseinander:
Die einen sehen "Śmigus-dyngus" schlichtweg als kindische Wasserverschwendung und ziehen es vor, den gesamten Ostermontag eingeschlossen in ihrer Wohnung zu verbringen. Andere freuen sich dagegen, an einem Tag im Jahr wieder Kind sein zu dürfen.
Denn neben der Möglichkeit, Bewunderung für ein junges Mädchen auszudrücken, ist "Śmigus-dyngus" vor allem eines - ein großer Spaß. Besonders in Familien mit Kindern wird der Tag mit dem angeblich höchsten Wasserverbrauch des Jahres sehnsüchtig erwartet. Monika Maliszewska aus Warschau erinnert sich: "Jedes Jahr hat mich mein Bruder mit kaltem Wasser geweckt. Und jedes Jahr habe ich mir vorgenommen, ihm beim nächsten Mal zuvorzukommen. Aber bis jetzt war er immer schneller."
Selbst Priester machen mit
Während "Śmigus-dyngus" ein gesamtpolnisches Phänomen ist, erfreut sich der Tag speziell in den ländlichen Regionen einer ausgeprägten Beliebtheit. Auch dort haben die Vertreter des weiblichen Geschlechts längst ihre Opferrolle abgelegt und bewaffnen sich ihrerseits mit Eimern und Wasserpistolen. In manchen Orten soll der Priester höchstpersönlich dafür Sorge tragen, dass seine Ministranten nach der Ostermontagsmesse eine kleine Abkühlung bekommen. Doch längst nicht alle Auswüchse, die "Śmigus-dyngus" beizeiten annehmen kann, finden mehrheitliche Zustimmung. "Heutzutage gibt es leider keine Grenzen mehr", kritisiert Monika Maliszewska, "Selbst alte Leute oder Menschen in Bussen und Straßenbahnen bleiben nicht mehr verschont."
Dass es auch anders gehen kann, beweisen die polnischen Gentlemen der alten Schule. Anstelle eines Wassereimers beglücken sie die Damenwelt am "Nassen Montag" mit wenigen Spritzern Kölnisch Wassers.
In einer Vorabversion erschienen auf: Spiegel Online, am 13. April 2009.