GESELLSCHAFT
©Jens Wiesner
Kinderarmut in Deutschland: Flucht in die Fantasie
Weihnachten steht vor der Tür und viele Kinder freuen sich auf eine reiche Bescherung. Andere wissen, dass es auch in diesem Jahr nichts geben wird. Wie sich Armut der Eltern für ihre Kinder auswirken kann, zeigt ein Beispiel aus Kiel.
"Tom, bist du schon wach?" Vorsichtig öffnet Julia Sokowicz die weiß furnierte Zimmertür zum Reich ihres zwölfjährigen Sohnes. Der kürzere Arm der Dinosaurierwanduhr zeigt auf die Eins, der längere auf die Zwölf. Tatsächlich, Tom liegt noch warm eingekuschelt in seiner König-der-Löwen-Bettwäsche. Eigentlich müsste der Fünftklässler mit dem blonden Wuschelkopf jetzt in der Schule sitzen, über einer Matheaufgabe oder einer englischer Grammatik brüten. Aber Tom, der natürlich ganz anders heißt, geht nicht mehr zur Schule.
Auf den ersten Blick ist sein Zimmer das eines ganz gewöhnlichen Jungen: Auf dem Boden liegen wild verstreut T-Shirts, Hosen und Spielzeuge, neben dem Bett türmen sich Comics, Bücher und japanische Mangas. Nur wer genau hinsieht, bemerkt die ausgewaschenen Stellen in einigen Kleidungsstücken, erkennt die blauen Filzstiftstreifen und den Stempel "Preisreduziertes Mängelexemplar" auf den Buchunterseiten. In Toms Zimmer gibt es viele solcher preisreduzierter Mängelexemplare: Gebrauchtes Spielzeug vom Trödelmarkt, ausrangierte Kleider von Bekannten, ausgelesene Bücher. Neu ist nur weniges.
"Armut ist nichts, wofür man sich in der heutigen Zeit schämen muss", lautet das offizielle Mantra der Beratungsstellen und Kinderschutzbünde in Deutschland. Aber Tom schämte sich. Für sein T-Shirt, das nicht aus einem Geschäft, sondern einem Hilfspaket befreundeter Familien stammt. Für die Tatsache, dass er nicht mitreden konnte, wenn auf dem Pausenhof über den neuesten Kinofilm diskutiert wurde. Und dafür, dass das Videospiel in seinen Händen älter war als er selbst.
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Aus der Schule gemobbt
Seine Klassenkameraden haben genau hingesehen. Es hatte mit den abschätzigen Blicken einiger Mitschülern begonnen. Dann folgten die geflüsterten Beleidigungen im Vorübergehen. Aber es war immer nur Tom, der den Lehrern auffiel, als er sich lauthals zur Wehr setzte. Schließlich wollte Tom nicht mehr in diese Schule gehen. Drei Monate ist es jetzt her, als er begann, jeden Morgen vor dem Schulbesuch zu erbrechen. Eine Panikattacke als psychosomatische Reaktion auf die Hänseleien in der Schule, attestierten die Ärzte und schrieben ihn krank. Seitdem hält sich Tom fast nur noch Zuhause auf, in der Sozialwohnung im Kieler Stadtteil Wiek, deren 48 Quadratmeter er sich mit seiner Mutter teilt. "Die Lehrer wollten, dass ich ihn hier unterrichte, aber das kann und schaffe ich nicht!" sagt Julia Sokowicz. Die Enddreißigerin, die derzeit arbeitslos ist und Harz IV erhält, zieht ihren Sohn und eine sechzehnjährige Tochter alleine groß.
Während Tom, mittlerweile angezogen, den Computer anschaltet, um als wackerer Held namens Kais in die Welt seines Lieblings-Online-Rollenspiels "Flyff" abzutauchen, sitzt seine Mutter wenige Meter entfernt am grau-karierten Küchentisch an einer Nähmaschine. Ein Passbild ihres Sohnes - noch um einige Jahre jünger – klebt auf der ihr zugewandten, milchweißen Oberfläche des Gerätes.
"Gerade Kinder definieren sich viel mehr als Erwachsene über materielle Güter", sagt Toms Mutter. Weil sie diese Mechanismen versteht, besitzt ihr Sohn neuerdings ein moderndes Videospiel. Ein Jahr lang hatte sich Julia Sokowicz das notwendige Geld zusammengespart, indem sie Socken verkaufte und Internet-Umfragen beantwortete. "Mit jedem Klick auf die Startseite von "klamm.de" erhält man 0,3 Cent", verrät sie.
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Wenn ein Eis die Welt kostet
Während die Experten noch um eine genaue Definition des Begriffs Kinderarmut streiten, hat Julia Sokowicz längst eine Antwort: "Arm ist ein Kind dann, wenn es nicht mehr mit seinen Freunden Eis oder Pizza essen gehen kann. Wenn kein Geld für Nachhilfe oder Klassenfahrten da ist." Diesmal lacht sie nicht, versinkt für einen kurzen Augenblick in Gedanken, bis die Frustration für einen kurzen Moment aus ihr herausbricht: "Wenn man selbst das dumme Kopiergeld in der Schule nicht mehr bezahlen kann."
Julia Sokowicz versucht, ihrem Sohn Mut zu machen, versteht aber auch, warum er es genießt, sich mit viel Fantasie und der Hilfe des Internets eine neue Identität als durchgestylter Junge mit fransigem Pony und Schneuzer zu zimmern. Während Kais Fluggeräte besitzt, die ihn blitzschnell von einem Ort zum anderen transportieren, hat Tom bereits Probleme, sich mehrfach im Monat ein Busticket zu leisten. Doch am besten gefällt es ihm, dass in seiner virtuellen Welt allein die Leistung zählt. Um Stärke, Geschicklichkeit, Ausdauer und Intelligenz seines Alter Egos zu entwickeln, muss er kleinere und größere Monster besiegen, manchmal alleine, häufiger im Team mit anderen Spielern. Dafür erhält er Erfahrungspunkte und manchmal sogar ein wenig Geld, virtuelles freilich.
"Wozu soll ich überhaupt noch zur Schule gehen, wenn ich am Ende sowieso nur ALG-II bekomme?" sagt Tom, angesprochen auf seine unterbrochene Schullaufbahn. Dann spurtet der Zwölfjährige zurück an den Computer, zu einer Welt, die ihn so akzeptiert wie er ist.
Dieser Text wurde im April 2009 als Bewerbungsreportage für das Volontärsprogramm der ifp geschrieben und im November 2009 in der Neuen Kirchenzeitung Hamburg veröffentlicht (Originallayout).