GESCHICHTE
Bild: ©US Air Force/Public Domain
Rosinenbomber Halvorsen: Schokolade vom Himmel
Die Maschine nähert sich Berlin im Tiefflug. Eine Douglas C-54 Skymaster. Im Cockpit dröhnt es so laut, dass Gail Halverson kaum ein Wort versteht. Seine Mission ist klar. Einen kurzen Moment zögert der amerikanische Pilot, dann schiebt er die Bedenken ein für alle mal beiseite. Er muss es tun. Es gibt keinen anderen Weg.
Am Boden hüpfen Kinder und Jugendliche auf und ab. Halverson visiert an und schließt die Augen. Sekunden später öffnet sich der Abwurfschacht. Ein kleines Paket saust in Richtung Boden. Und trifft punktgenau sein Ziel.
Die Kinder des Zweiten Weltkriegs haben gelernt, den Himmel zu fürchten. Der Himmel hatte die Bomben gebracht. Bomben, die ihr Zuhause zu Schutt und Asche verbrannten. Bomben, die ihre Väter und Mütter in Stücke rissen.
Dann kam "Onkel Wackelflügel". Und der Himmel wurde zum Schlaraffenland.
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Nicht im Traum hätte sich Gail Halverson vorstellen können, jemals mit einem Deutschen befreundet zu sein. Geschweige denn, mit einer ganzen Stadt. Deutsche waren es, die einen guten Kumpel aus Utah abgeschossen hatten. Deutsche. Diese führertreuen Herrenmenschen. Mörder von Millionen. Harte, kalte, gefühllose Wesen.
Und doch ist Gail nach Berlin gekommen. In einer Maschine, die drei Jahre zuvor noch den Tod in die Reichshauptstadt getragen hat. Nun bringen die amerikanischen Flugzeuge Lebensmittel, Medikamente und Kohle.
Ausgemergelte, gebrochene Gestalten findet Gail vor. Das sollen die gefürchteten Herrenmenschen sein? Blond und blauäugig sind sie ja, aber der eiskalte Blick in den Augen fehlt. Wer sind diese Deutschen? Gail beschließt, auf eigene Faust nachzuforschen. Er steigt in einen Jeep, aber weit kommt er nicht. Der Flughafen Berlin-Tempelhof ist von einem hohen Stacheldrahtzaun umgeben. Gail fotografiert hindurch: Steinberge, die einmal Häuser waren. Klick. Rußgeschwärzte Mauern. Klick. Schornsteine, die einsam in den Himmel ragen. Klick. Klick.
Plötzlich durchschneidet ein Ruf die Stille. Kinderstimmen. "Hello, hello!" Gail zuckt zusammen. Ganz legal ist seine Spritztour ja nicht. Aber die Stupsnasen, die sich durch den Zaun drücken, sehen wenig furchteinflößend aus. Der junge Mann aus Amerika wird neugierig und lässt sich auf ein Gespräch ein. Über den Krieg. Die Russen. Die Blockade. Den Hunger. Die Mädchen und Buben können es kaum glauben: Ein echter amerikanischer Pilot unterhält sich mit ihnen! Der Wahnsinn!
Die Stunde des Abschieds fällt beiden Seiten schwer. Aber Gail muss zurück, die nächste Schicht wartet. Als der Pilot wieder in seinen Jeep klettert, trifft ihn die Erkenntnis wie ein Blitz: Alles haben diese Kinder im Krieg verloren - und trotzdem haben sie ihn, den reichen Amerikaner, nicht angebettelt. Unglaublich! Gail dreht noch einmal um, durchwühlt seine Hosentaschen: Zwei Streifen Kaugummi - viel zu wenig für den Haufen. Er gibt sie trotzdem her – und ein Versprechen, das sein Leben auf den Kopf stellen wird.
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I went back to the fence, broke two sticks of gum in two pieces of each and passed it through the fence. They were so excited. Only four of them got a half of stick of gum and the others asked to smell the wrapper. And those with the half of stick tore off the paper and the tinfoil around the gum and passed it to the others. And those who just got a piece of paper put it to their nose and smelled it and smelled it. When I saw that I couldn't believe it and then I said to myself: I got to give them more. But I couldn't come back to the fence. I'd be flying the next available airplane on the airport. So I told them: ' When I come in over your heads to land tomorrow I will drop chocolate and gum from the airplane if you'll share it.' And they said: 'Jawohl, jawohl, jawohl, we'll share it!'
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"Ja, hast du denn den Verstand verloren?" Die Stimme von Gails Kopiloten überschlägt sich fast. Erst will dieser Typ aus Utah seine Schokoladenration haben. Und dann will er sie auch noch aus dem Flugzeug werfen. Ohne offizielle Erlaubnis! "Du wirst uns alle in Schwierigkeiten bringen!" Die anderen Fliegerkollegen nicken. Doch Gails einzigem Argument haben sie nichts entgegen zu setzen: "Ich hab es Ihnen versprochen!"
Gail hat nur eine Nacht, um die Aktion vorzubereiten. Nicht nur sein Kopilot, auch der Techniker und mehrere Andere spenden ihre Rationen. Kleine Fallschirme aus Papiertaschentüchern sollen den Fall der süßen Päckchen bremsen. Und mit den Kindern am Boden hat Gail ein besonderes Erkennungszeichen ausgemacht. Beim Landeanflug auf Berlin lässt er die Tragflächen seiner Maschine hin und her wackeln. Kurze Zeit später segeln - wie versprochen - Päckchen mit Schokolade vom Himmel. Die Aktion ist ein voller Erfolg: Als Gails C-54 wieder vom Boden abhebt, winken ihm drei Taschentücher durch den Stacheldrahtzaun zu.
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Von nun an kommt "Onkel Wackelflügel", wie ihn die Berliner Kinder bald nennen, nicht mehr zur Ruhe. Immer wieder schnorrt er sich Schokolade bei seinen Fliegerkollegen, immer wieder wirft er die süße Fracht aus der Luft ab. Als die Berliner Presse über den unbekannten Piloten berichtet und sogar Fanpost an "Onkel Wackelflügel" im amerikanischen Hauptquartier landet, fliegt die Aktion auf. Gail wird zu seinem Vorgesetzten zitiert und gesteht. Doch der General lässt noch einmal Gnade vor Recht ergehen. Gail darf weiterwerfen - und nicht nur das: Alle Piloten der Luftbrücke sind von nun an angehalten, es Gail gleichzutun. Ein wahrer Schokoregen geht über Westberlin nieder: 23 Tonnen in 14 Monaten.
Nur ein Kind ist todunglücklich: die kleine Mercedes. Nicht nur, dass Mercedes noch nie eines von Gails süßen Päckchen fangen konnte – nein, die tieffliegenden Amerikaner müssen auch noch die Hühner in ihrem Garten verschrecken! Kurzerhand nimmt das junge Mädchen Stift und Zettel zur Hand - und schreibt einen Beschwerdebrief.
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I got one letter from a little girl. Her name was Mercedes and she said: 'You are causing us a real problem. We live in an apartment house very near Tempelhof and you are coming right over our house at low altitude and you are scaring our white chickens. We have chickens in our yard and they think you are a chicken hawk and they don't lay many eggs anymore. During the blockade that's a very bad problem.' But in the last paragraph she said: 'When you see the white chicken drop it there, I don't care if it scares them.' Well, I couldn't find Mercedes' chickens and so I told all my friends. But we couldn't hit Mercedes. So I took a big package of gum and candy to Berlin and mailed it to her in the Berlin mail. Well, with all the mail, you know, I never heard from Mercedes again!
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Am 12. Mai 1949 gibt die Sowjetunion die Blockade Westberlins auf. Die amerikanischen Flieger kehren in ihre Heimat zurück, unter ihnen auch Gail. Der junge Mann wechselt ins Raumfahrtprogramm, heiratet. Aus dem Jungspund wird ein Colonel und Familienvater. Doch die Schokolade lässt ihn nicht los. 1970 kehrt Gail in die geteilte Stadt zurück. Als Kommandant des Flughafens Tempelhof. Auf besonderen Wunsch der Berliner. Vergessen haben sie ihren "Onkel Wackelflügel" nie.
Beinahe täglich flattern nun Einladungen in Gails Haus. Von Menschen, die seine Schokolade gefangen haben. Von Menschen, die ihrem "Onkel Wackelflügel" persönlich danken möchten. Wie gerne würde Gail allen zusagen. Aber als Kommandant hat er nur wenig freie Zeit zur Verfügung. Und weil Gail fair bleiben möchte, sagt er lieber allen ab. Die Menschen verstehen. Mit Ausnahme eines jungen Paares. Hartnäckig schicken die beiden Einladungen zum Abendessen. Auf jedes freundliche Nein folgt ein neuer Brief. So geht es anderthalb Jahre lang. Schließlich, im Herbst 1972, knickt Gail ein.
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I went to this apartment not far from the airfield, ran the klingel and down came a young family and took me upstairs to their apartment. A young lady, a young wife, took me to a china cabinet and pulled out a letter and said: 'Read this!' And the postmark was 4th November 1948 and it said: 'Dear Mercedes, I can't find your chicken, but I hope this is okay.' And she said: 'So pilot, I am Mercedes, and I show you now where the chicken were.'
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Vierzig Jahre nach ihrer ersten Begegnung sind Gail und Mercedes noch immer befreundet. Mindestens einmal im Jahr versuchen beide, sich zu besuchen - manchmal in Berlin, manchmal in Utah.