REISE
©Jens Wiesner
Tagestrip: Hamburg, meine Perle
Zum ersten Mal in Hamburg und nur 24 Stunden Zeit? Son Schiet! Meine kleine Tagestour schont den Geldbeutel - und zeigt so einige Orte, die erst auf den zweiten Blick auffallen.
Der gemeine Norddeutsche ist ein klischeegeplagtes Wesen: Wortkarg soll er sein, unterkühlt, skeptisch allem Neuem gegenüber. In Hamburg ist davon nur wenig zu spüren: Schließlich hat hat in der Hafenstadt Tradition: Selbst seinen Milchkaffee bestellt der Hamburger mittlerweile auf Portugiesisch ("Galão"). Und bei einem kurzen Schnack über Fußball ("HSV? Pauli!!!") und fiese Bauspekulanten (Stichwort "Gentrifizierung") tauen selbst eingefleischte Hanseaten auf - solange man sie nicht mit einem Begrüßungs-Bussi rechts und links verschreckt.
Ja, die Hamburger sind schon mächtig stolz auf ihre Heimat – und erzählen gerne und viel von den unzähligen Vorzügen der Elbstadt. Den ungeübten Touristen lässt dieses Überangebot an Möglichkeiten schnell in Schockstarre verfallen. Panisch klappert er die üblichen Sehenswürdigkeiten ab und ärgert sich schon bei der Abreise, doch nicht alles gesehen zu haben. Zugegeben, der Ausblick vom Michel ist schon sein Geld wert, der Musical-Trip zum König der Löwen ein musikalisches Erlebnis und die Reeperbahn - nun, die Reeperbahn. Was jenseits der Postkartenidylle stattfindet, bleibt dem Kurzbesucher in der Regel jedoch verborgen. Die folgenden Zeilen möchten dies nun ändern. Lasst euch mitnehmen auf eine unverschämt subjektive Tagestour, die auf Vollständigkeit pfeift und auch Menschen mit kleinerem Geldbeutel nicht überfordert.
Hamburgs Street-Art-Original "OZ" am Werk ©Jens Wiesner
Landungsbrücken raus
Am besten kommt ihr natürlich bei den Einheimischen selbst unter. Und wer keinen Hamburger zu seinem Freundeskreis zählt, besorgt sich einfach über Couchsurfing oder Hospitality Club einen Schlafplatz. Wenn ihr Glück habt, braucht ihr jetzt gar nicht mehr weiterlesen: So mancher Gastgeber freut sich darüber, euch seine Heimat höchstpersönlich zu zeigen.
Wer doch lieber in der Jugendherberge übernachtet, genießt zumindest einen Stellungsvorteil: Die Landungsbrücken, das maritime Herz der Stadt, liegen nur eine Kautabakspuckweite entfernt. Dort angekommen solltet ihr erst einmal tief durchatmen. Einerseits, um den Geruch frischer Seeluft in eure Lungen zu saugen, andererseits um euch mental auf das unweigerliche Geschiebe und Gedrängele vorzubereiten. Denn von den über 110 Millionen Tagesgästen, die jährlich in die Hansestadt einfallen, folgt praktisch jeder dem Ratschlag der Hamburger Indie-Rockband Kettcar: Landungsbrücken raus! Urige Menschen in Seebärenkostüm buhlen hier mit einem lauten „Haaaaaafenrundfahrt“ um die Gunst des zahlenden Touristenvolks. Doch nur, wer sich tatsächlich auf eine Elbtour samt Audiokommentar einlassen möchte, sollte diesen bärtigen Sirenen hinterher trotten. Der Rest bewaffne sich mit einem HVV-Tagesticket, lasse den Menschenauflauf hinter sich, und fahre zwei U-Bahn-Stationen weiter bis zur Feldstraße.
Direkt gegenüber des Ausgangs liegt das Karoviertel, ein kleines Quartier, alternativ, aber weniger aufgeregt als die angrenzende Schanze. Im "Café Panter" oder in "Gretchens Villa" rüstet ihr euch erst einmal mit ausreichend Koffein und Kalorien für den Tag. Lokaltipp: Wer Zucker und Zimt nicht abgeneigt ist, sollte unbedingt zum Franzbrötchen, der lokale Gebäckspezialität, greifen.
Gängeviertel ©Jens Wiesner
Kultur oder Konsum?
Jetzt bloß nicht in die Müdigkeitsfalle tappen! Ein kurzer Verdauungsspaziergang hilft gegen die unvermeidliche Essensträgheit; am besten geht es gleich in Richtung Gängeviertel (für Faule: U Gänsemarkt). Eigentlich sollte diese Stätte, ein ehemaliges arme-Leute-Arbeiterquartier aus der Hamburger Gründerzeit, längst den glitzernden Hochhausbauten eines niederländischen Investors gewichen sein. Doch der hatte die Rechnung ohne Hamburgs Kunstszene gemacht: Im August 2009 besetzen rund 200 junge Künstler die verfallenden Häuser, richteten dort Ateliers und Ausstellungen ein und nahmen den Kampf für den Erhalt der historischen Gebäude auf. Mit Erfolg: Im Dezember kaufte die Stadt die Gebäude zurück, seitdem laden die Künstler regelmäßig zu Ausstellungen, Konzerten, Lesungen und Partys.
Wie, Kultur ist euch relativ egal? Ihr wollt dem Konsum frönen? Kein Problem: Hamburgs Haupteinkaufszeile an der Mönckebergstraße versorgt euch mit den bekannten Großketten H&M, McD und Starbucks und allerlei Schuhläden. Wer seinen Einkaufsbummel lieber individuell gestaltet, hüpft dagegen in die nächste U-Bahn Richtung Sternschanze. In Hamburgs Szeneviertel erfreuen zahlreiche Klamotten-, Second-Hand- und Szeneläden das alternative Shoppingherz. Aber Vorsicht: Alternativ heißt in Hamburg nicht unbedingt günstig. Ein Laden sei an dieser Stelle besonders ans Herz gelegt: Im Lockengelöt findet ihr kreative Mitbringsel für daheimgebliebene Freunde und Verwandte: Ölfässer erleben hier ihre Wiedergeburt als Schrank, farbige Schallplatten werden zu Wandleuchten umfunktioniert und Bücher zu Garderoben. Aber Vorsicht: In der Wohlwillstraße 20 werdet ihr das über die Stadtgrenzen hinaus bekannte Geschäft nicht mehr finden: Seit dem 1. Mai 2012 haben sich die Inhaber ins ruhigere Karoviertel verzogen, genauer gesagt in die Marktstraße 119.
Erfahrungsgemäß werden sich eure Wege nun, da sich der Nachmittag langsam seinem Ende zuneigt, trennen: Auf die ruhige Filmfraktion warten in der Schanze ("3001"), im Univiertel Grindel ("Abaton") und in Altona-Ottensen ("Zeise") gleich drei Hamburger Lichtspieloriginale. Ein absoluter Geheimtipp ist jedoch die Indie-Videothek "Filmraum". Jeden Montag- und Mittwochabend (21 Uhr) verwandelt sich der Verleihraum an der Müggenkampstraße 43 (U Lutterothstraße) in einen kleinen Kinosaal. Mit Reservierungen müsst ihr euch dort erst gar nicht herumschlagen. Kommt einfach ein Viertelstündchen früher vorbei und nehmt das gemütliche Sofa vor der Leinwand in Beschlag. Eintritt für seine cineastischen Dienste verlangt Inhaber Behzad Safari nicht: Eure Dankbarkeit beweist ihr am besten mit dem Kauf von ein oder zwei Astra-Bieren an der Ladentheke.
©Jens Wiesner
Den Kiez rocken
Wer eine aktivere Abendgestaltung bevorzugt, sollte zunächst einmal seinen Magen stärken - zum Beispiel im Asia Imbiss (Beim Grünen Jäger 24) auf der Schanze. Zugegeben, von außen wirkt das Lokal eher unscheinbar, kann aber mit der wohl leckersten Kokossuppe von ganz Hamburg aufwarten. Ausreichend gestärkt führt euch der Weg nun zurück zum Hafen, genauer gesagt zum Anlieger 10 der Landungsbrücken. Dort ankern die MS Hedi und die MS Claudia, zwei Barkassen, die 2003 zu schwimmenden Clubs umgebaut wurde. Regelmäßig ab 17 Uhr tuckert die Hedi unter Kapitän Andreas durch den Hafen – solange Wind und Wetter es erlauben. Auch wenn der Schiffsname eher an Florian Silbereisen und Co. erinnert, legen die Plattendreher hier 60ies-Beat, Punk, Funk, Soul und Garagenrock auf. Unbezahlbar: Wenn der Liveact von außerhalb erst an Bord realisiert, dass tatsächlich auf einem schaukelnden Schiff und nicht in einem verranzten Club gespielt wird.
Spätestens um Mitternacht ist der Spaß auf der Hedi vorbei. Wer jetzt erst warm geworden ist, muss auf den nahe gelegenen Kiez weiterziehen. Wer noch einen Hauch echte Kiezluft schnuppern möchte, dem sei Eckkneipe "Zur lustigen Mamma" in der Paul-Roosen-Straße 21 ans Herz gelegt. Hier bekommt man Bier und Korn noch zu humanen Preisen - und an der kneipeneigenen Jukebox was Schmachtiges fürs Herz. Gerade an Wochenenden können die Junggesell(inn)enabschiede, Herbertstraßengaffer und Plörösenmiezen auf der Reeperbahn allerdings schnell nerven. Besser, man biegt so schnell wie möglich in eine der zahlreichen Nebenstraßen ein (z.B. den Hamburger Berg). Dort bieten kleinere Clubs wie die Barbarabar oder das Roschinskys eine willkommene Abwechslung zum lauten Glitzergammel der Reeperbahn. Günstigster Drink auf dem Kiez ist der Mexikaner, ein Kurzer auf Wodka-Tomatensaft-Tabasco-Basis. Übrigens: Einem Wirt, der mehr als 1,50 Euro für dieses edle Gesöff verlangt, solltet ihr mit spöttischem Blick laut ins gierige Gesicht lachen. Zu späterer Stunde - sprich: wenn man selbst den entsprechenden Pegel erreicht hat - ist die Reeperbahn dann auch wieder erträglich - am besten tanzend im Molotow.
Durchgeschwitzt und durchgezappelt geht es im Morgengrauen dann … nein, noch nicht heimwärts. Schließlich darf ein guter Samstagabend in Hamburg nicht ohne Besuch des Fischmarkts (Große Elbstraße) enden. Von fünf bis halb zehn (November bis März: ab 7 Uhr) könnt ihr eurem nachtgeplagten Magen mit frischem Fisch wieder auf die Beine helfen. Abschließend noch ein warnendes Wort an alle zartbesaiteten Naturen: Einige Marktschreier nehmen ihre Rolle ausgesprochen ernst und pöbeln ihre Kunden schon einmal laut und unfreundlich an. Mit freundlicher Gegenrede kommt man da nicht weit. Brüllt einfach zurück und genießt den positiven Nebeneffekt der ganzen Schreierei: Eure Müdigkeit ist plötzlich wie weggeblasen...
Euer Lieblingsort nicht dabei? Hier könnt ihr eure persönlichen Tipps loswerden: