GLOSSE
© Marvel/ Gif: Jens Wiesner
Wut am Steuer: Mein Auto ist auf 180 - und ich bin es auch
Alle doof, außer mir. Am Steuer werde ich zum Hulk. Ein Offenbarungseid über das Cholerikertum im Auto.
Ich bin ein entspannter Mensch, wirklich. Wenn sich ein Bürokollege bei brütendheißem Wetter über das offene Fenster beschwert ("Das zieeeeeeeht!"), schließe ich es kommentarlos. In der Supermarktschlange warte ich ruhig, bis die ältere Dame ihr Klimpergeld auf den Tresen kippt. Und übergibt sich der müffelnde Herr neben mir in der S-Bahn, wechsle ich kommentarlos den Platz. Selbst, wenn etwas auf meine Schuhe gespritzt ist.
Nicht so im Auto! Sobald meine Füße das Gaspedal berühren, geht eine Verwandlung in mir vor: Das Dauerlächeln verschwindet. Die Augen verengen sich zu Sehschlitzen, jederzeit bereit, tödliche Blitze abzufeuern. Autofahrer-Jens hat die Bühne betreten. Ein aufbrausender Zeitgenosse, der die Existenz der Menschheit im Allgemeinen und Verkehrsteilnehmer im Speziellen verflucht.
Anfangs habe ich versucht, mich gegen diese Verwandlung zu wehren. Habe getan, was die Ratgeber sagen: Tief durchatmen. Bis zehn zählen. Entspannende Musik hören. Eine Pause machen. An etwas Schönes denken. Aber wie soll man denn bitteschön an etwas Schönes denken, wenn der Dusselkopf vor einem im Zeitlupentempo durch die Ortschaft schleicht? Dann bricht einfach der Hulk in mir durch. Ich schimpfe auf dieses ganze Fahrlegasthenikerpack, motze auf die Bauarbeiter, die dieses Loch in der Fahrbahn noch immer nicht geflickt haben. Manchmal brülle ich sogar Ampeln an.
In Gesellschaft lammfromm
Nicht, dass ich selbst vorbildlich fahre. Zu spät anfahren, auf Parkplatzsuche durch die Straßen schleichen, riskante Überholmanöver wagen - mache ich ja auch alles. "Fehler gehören einfach zum Alltag auf der Straße dazu", sagt auch Verkehrspsychologe Karl-Friedrich Voss aus Hannover. Sollte also eigentlich nicht so schwer sein, die auch anderen zuzugestehen. Tue ich nur nicht. Schuld haben auf der Straße immer nur die anderen!
Sobald ich ausgestiegen bin, sind mir diese Kontrollverluste immer total peinlich. Deshalb achte ich darauf, dass alle Autoscheiben vollständig geschlossen sind. Erst wenn ich sicher bin, dass niemand zuhört, schreie ich mir die Seele aus dem Leib. Fährt nur eine einzige Person im Auto mit, bleibt der wütende Hulk zuhause - und ich lammfromm. Voss findet das gar nicht so schlimm: "In gewissen Grenzen kann es gut sein, seinem Ärger in der geschützten Umgebung abzulassen." Heißt: Brüllen ist okay, so lange es der andere Verkehrsteilnehmer nicht mitbekommt und die Situation sich hochschaukeln könnte.
Ganz anders sieht es eine Freundin, die hier aus gutem Grund anonym bleiben möchte. Nennen wir sie Sandy. Sandy braucht Publikum beim Ausrasten. Alleine im Auto grummelt sie ihren Ärger in sich hinein. Aber sobald ein potentieller Zeuge dabei ist, dreht der "autofahrende Klaus Kinski" (Selbstbeschreibung) auf. Stinkefinger und Vogel zeigen, böse Blicke und ausgedehntes Schimpfen gehören bei ihr dazu. Ab und an bremst Sandy gar abrupt, wenn der Fahrer hinter ihr zu sehr an ihrer Stoßstange klebt: „Weil alle anderen eben Idioten sind und die mal ´ne Lektion brauchen."
Woher kommt die Wut?
Voss warnt vor dieser Art von Selbstjustiz. Deeskalation ist das Stichwort. Selbst cool bleiben, sich das Nummernschild notieren und den Rüpel zur Anzeige bringen. Hört man nicht gerne, aber der eigene emotionale Ausraster kann schnell im Grab enden: Rund ein Drittel aller bei Unfällen im Straßenverkehr getöteten Menschen könnten auf aggressive Fahrweisen zurückzuführen sein, warnte der Gesamtverband der Versicherer im vergangenen Jahr.
Woher diese Wut kommt, wissen die einschlägigen Experten der Automobilclubs. Besonders anfällig ist man, wenn man von einem Termin zum anderen hetzt oder den Stress von der Arbeit und aus der Familie mit auf die Straße nimmt. Hinzu kommt, dass das Verkehrsaufkommen auf Deutschlands Straßen insgesamt zugenommen hat. Die Erfindung des Navis macht alles noch schlimmer: Weil die vorausberechnete Ankunftszeit sich eigentlich immer verlängert, glauben viele, den "Zeitverlust" durch Raserei und Drängelei ausgleichen zu müssen. Kann ich bestätigen. Sobald ich genervt und unter Zeitdruck ins Auto steige, peitscht sich mein Adrenalinlevel in ungeahnte Höhen.
Mein fahrendes Stück Privatsphäre
Aber in der S-Bahn oder auf dem Fahrrad brülle ich ja auch nicht wie von der Tarantel gestochen herum. Ich persönlich glaube ja, dass mein Verhalten in der besonderen Natur des Autos begründet liegt. Das Auto ist mein Reich, eine fahrende Erweiterung meiner Privatsphäre draußen in der Welt. Ein Stück Zuhause mitten unter Menschen und trotzdem isoliert von allen. Nirgendwo kann ich meine Musik so laut aufdrehen. Und nirgendwo anders kann ich so ehrlich und lautstark verbalen Dampf ablassen. Würde ich zuhause rumschreien wie im Auto, in zehn Minuten stünde die vor der Tür - oder die Jungs mit der Zwangsjacke.
Alles andere als Rumbrüllen muss aber ein No-go sein: So verlockend es auch ist, den transusigen Vordermann per Lichthupe von der linken Spur zu drängen, die Gefahr ist einfach zu groß. Vielleicht sollte ich es ja doch noch einmal mit dem Zählen versuchen, wenn die Stoßstange meines Vordermannes mal wieder gefährlich nahe kommt. Aber brüllen werde ich auch weiterhin. Hört ja keiner.